GESCHICHTEN 4 | 3:20 Min
Die Leipziger Löwenschlacht
Lokale Posse mit Symbolgehalt
Nicht auszudenken, wenn ein politisches Großereignis, ein Zirkus, acht Bier und lebendige Leipziger Wappentiere aufeinandertreffen! Hätte sich die Geschichte jemand ausgedacht, würde man ihm Plattheit und Übertreibung vorwerfen.
Doch am 19. Oktober 1913 beweist die Realität, dass man sich so etwas nicht auszudenken braucht. Doch der Reihe nach. In den Mittelpunkt des Geschehens setzt die Realität den Wanderzirkus Barum. Er gastiert nicht grundlos in der Messestadt, denn an jenem Wochenende lockt die Einweihung des Völkerschlachtdenkmals. Als großer öffentlicher Zirkus mit Kaiser und König lock das Großereignis die Menschenmassen an. Die Stadt ist illuminiert, die Leipziger und manche Gäste sind auf den Beinen. Doch die Stimmung im Lande und in der Stadt ist aufgereizt, es kommt zu Anti-Kriegs-Protesten, Gerüchte über einen Anschlag machen die Runde. Doch es bleibt ruhig, wenngleich die Stimmung unter den allerhöchsten Gästen verschnupft wirkt.
Durst versus Pflichtgefühl
Der ernste Zwischenfall folgt am nächsten Abend. An jenem Sonntag zieht der Zirkus Barum weiter, in Köthen steht das nächste Gastspiel an. Von den Frankfurter Wiesen geht es zunächst zum Verladebahnhof in Eutritzsch. Die Kutscher zweier Tiertransporte jedoch unterbrechen die Fahrt vor der Wirtschaft Graupeter in der Berliner Straße. Kurz vor dem Ziel besiegt ihr Durst das Pflichtgefühl. Vor Gericht wird später gestritten, ob es vier oder acht Bier waren. Fakt ist, dass den Pferden des hinteren Wagens die Zeit lang wird, sie stürmen ohne Geschirrführer weiter. Der Löwenwagen vor ihnen nimmt dabei Schaden, eine herannahende Straßenbahn macht dann das Chaos im aufziehenden Nebel komplett. Acht der zehn Löwen suchen ihr Heil in der näheren Umgebung der Unfallstelle.
Zu den ersten Zeugen gehört Schutzmann Bruno Weigel, dem die Nachwelt einen plastischen Bericht der Ereignisse verdankt. Ich beschleunigte meine Schritte, nahm meinen Säbel im Laufschritt in die Hand und lief in die Richtung, aus der die Rufe kamen. Als ich an der Gastwirtschaft Graupeter angelangt war, sah ich im Nebel zwei Zirkuswagen stehen, hinter denen die Straßenbahn hielt. Zur gleichen Zeit bemerkte ich, wie einige Löwen unablässig auf die Pferde sprangen, die vor die Wagen gespannt waren. Nun gab es für mich kein Überlegen mehr. Ich zog meinen Revolver – wir hatten damals nur Trommelrevolver – und schoss meine sechs Patronen auf die Löwen ab.
Weigel mobilisiert Verstärkung. Auch Passanten sind noch zahlreich unterwegs. Mit Stock und Schirm bewaffnet, strömen sie herbei und begleiten an der Seite von siebzig Schutzmännern die Löwenjagd. Fünf der Wildkatzen sind bald zur Strecke gebracht. Die anderen drei suchen Schutz vor dem Aufruhr. Löwin Polly sorgte auf ihrer Flucht ins nahe Hotel Blücher für die meisten Schlagzeilen. Den aufgeschreckten Hotelgästen gelang es, das nicht weniger aufgeregte Tier in einer Toilette festzusetzen. Ihre Rettung naht in Gestalt des hinzugerufenen Zoodirektors Dr. Johannes Gebbing. Mit Oberwärter Hermann Fischer und seinen Helfern gelingt es ihm, Polly in eine Transportkiste zu locken.
Wenig waidmännisches Ende
Auch in einem Hinterhof in der Berliner Straße geht dieser Plan noch einmal auf. Doch für den letzten Ausreißer, den berühmten Löwen Abdul, hält die Dramaturgie ein tragisches Ende parat. Gebbings Memoiren geben Auskunft zur Großwildjagd im Verladebahnhof: Es war ein fantastisches Bild, dieser stattliche Löwe im schwankenden Licht suchender Laternen zwischen den Gleisen, umgeben von einer Kette mit Revolvern bewehrter Polizisten. „Nicht schießen!“ schrie ich. „Um Gottes willen, nicht schießen!“. Dann ging ich vor. Ich hatte wieder einen Käfig bereit, in den ich den Löwen hineinschmeicheln wollte. Bei der unsicheren Beleuchtung mag das bedenklich ausgesehen haben. Jedenfalls ging ein Revolver los.
Der Autopsiebericht konstatiert später wenig waidmännische 165 Einschüsse aus 50 Waffen.
Es nimmt nicht Wunder, dass diese ungewöhnliche Mischung aus Heroismus und Banalität reichlich Stoff für Satiriker und Spötter bot. Der hundertste Jahrestag der Völkerschlacht, der Meißnische Wappenlöwe im Hintergrund und die berühmte Löwenzucht des Leipziger Zoos lieferten die wichtigsten Bestandteile für abenteuerliche Erzählungen. Zahlreiche Motive wurden wurden immer wieder angereichert und variiert. Zur Mythenbildung trugen auch die zahlreichen Werbemaßnahmen durch Fremdenverkehr und Gastronomie bei.
Leipzigs Traditionsgaststätte Auerbachs Keller nutzte mit einer Löwen-Speisen-Karte das Ereignis. Löwenschwanzsuppe, Löwenschnitzel und anderes ergänzten eine Zeitlang Goethe, Faust und den Fassritt. Dass kein echtes Löwenfleisch verarbeitet wurde, störte das Publikum nicht wirklich. Der Löwen-Boom überlebte noch Jahrzehnte. Hoteliers und Gastronomen luden zu musikalisch-literarischen Abenden, die damals beliebten Reklamemarken behandelten das Ereignis in mehreren Serien. Noch Jahrzehnte später kredenzte das DDR-Interhotel Zum Löwen seinen Gästen ein Nussparfait Polly.
Eher nüchtern verliefen die folgenden Ereignisse in der Realität. Geschirrführer Schmelzer wurde im Dezember 1913 wegen Zuwiderhandlung gegen § 151 der Verkehrsordnung zu fünf Tagen Haft oder 25 Mark Geldstrafe verurteilt, Zirkusdirektor Artur Kreiser zu zehn Tagen oder 100 Mark Strafe wegen Unterlassung erforderlicher Vorsichtsmaßregeln (...) bei der Haltung bösartiger oder wilder Tiere
(§ 367 Ziffer 11 StGB). Das Gericht wollte den Fall mit wenig Geräusch rasch beenden.
Das Hotel Blücher ging im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs unter, das verfallene Gebäude der Graupeter-Kneipe wurde nach 1990 abgerissen. Schutzmann Bruno Weigel starb 1955 als Kriminalkommissar im Ruhestand. Seine etwas heroische Grabstein-Inschrift Am 19.Oktober 1913 kämpfte er in Leipzig mit acht ausgebrochenen Löwen
sei ihm gegönnt.
Bildquellen: Wikipedia
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