Vertraute Gesichter der Großstadt


(Un)auffällige Alltags-Begleiter

  URBANES   16 | 2:10 Min

Mit Großstädten werden die Anonymität des Einzelnen als auch unpersönliche Menschenmassen verbunden. Mit Hilfe einiger Farbspraydosen geht es auch anders. Hier eine kleine Auswahl jener alltäglichen Begleiter, die so oder ähnlich fast überall zu finden sind.

Graffiti-Auge
Sinnesorgan Nummer eins ist das Auge, entsprechend groß die Symbolik

Der französische Philosoph und Medientheoretiker Jean Baudrillard gilt als einer der ersten, die sich intensiv mit dem Phänomen der Graffitis beschäftigt haben. Ende der 1970er Jahre veröffentlichte der Germanist sein Buch Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. Das große Echo auf diese Veröffentlichung brachte Baudrillard, der sich auch intensiv mit der Fotografie beschäftigte, viel Zustimmung als auch viel Kritik. Heute zählen seine Werke zu den Standardschriften postmodernen Denkens.

Riesen-Graffiti an Kesselanlage
Ansprechendes und originelles Graffiti als Ausnahme unter kunstfreien Krakeleien

Sinnenleere und Einmischung

Die Stadt, Vertreterin des Urbanen schlechthin, ist für Baudrillard zugleich ein neutralisierter und homogenisierter Zeit-Raum. Dieser wiederum ist zerstückelt durch Zeichen, die versuchen, sich gegenseitig zu überbieten. Es ist eine sinnentleerende Verzweigung der Zeichen, die für eine symbolische Zerstörung gesellschaftlicher Verhältnisse steht. Teil dieser Zerstörung ist auch die Exekution der Zeichen. Ein Entkommen aus dieser Logik gibt es für Baudrillard nicht, indem man neue Bedeutungen produziere, sondern nur, indem man leere Zeichen setze. Das Paradebeispiel dafür sind für ihn die Schriftzüge und Tags der Graffitis auf der New Yorker U-Bahn. Diese durch keinen Sinn aufgefüllten Zeichen seien das einzig verbliebene Wahre. In ihrer Bedeutungslosigkeit würden sie die vorherrschende Sinnlosigkeit beschleunigen und radikalisieren.

Gelbes Männchen an Gästehaus-Ruine
Die Front eines Lost Place als Ausgangspunkt eines Rundgangs mit speziellen Graffiti-Männchen

Gesichter gegen graue Theorie

Graffitis sind für Baudrillard – und eben den Neo-68er-Zeitgeist der 1980er Jahre – eine Auflehnung gegen bürgerliche Identität. Nach Baudrillard widerstehen sie jeder Interpretation, jeder Konnotation, und sie denotieren nichts und niemanden, weder Denotation noch Konnotation. Mit ein paar Jahrzehnten Abstand zeigen sich manche Löcher in der Deutung seiner Aufstände der Zeichen, setzt man erst einmal die ideologische Brille ab.

Rotes Männchen unter Blasen
Baudrillards Theoreme zeigen auch bei den Schüsselkopf-Männchen einige Risse
Skizzenhaftes Fenster-Männchen
Etwas skizzenhaft zeigt sich dieses Exemplar an einer ehemaligen Drogerie

Denotation hin, Konnotation her: So einfach kann man sich nicht aus Sinnzusammenhängen und Interpretationen herausstehlen. Auch eine Nicht-Botschaft trägt eine Botschaft mit sich. Nur ist die Wirkungskette zwischen Sender und Empfänger weder linear noch ohne Widersprüche.

Gelbes Männchen überm Hafenbecken
Ihm stand das Wasser bis zum Hals, kurz bevor er und seine Brache verschwanden
Männchen auf rot neben Fernverkehrsstraße
Besser beisammen ist dasjenige, das an einer Bundesstraße Besucher verabschiedet
Gelbes Männchen unter Eisenbahnbrücke
Ein stabiles Dach und eine fast plastische Darstellung bietet eine Eisenbahnüberführung
Männchen in hellblau neben Bahngleisen
Nur zwei Brücken weiter wartet dieses blasse Männchen im verwilderten Gleisbereich
Orangefarbenes Männchen in ratlos
Beinahe etwas ratlos wirkt das Geschwisterchen am Lost Place Gurken-Schumann
Kommunizierende Männchen mit Sprechblasen
Die beiden nebenan sind der Sprache mächtig, egal ob Slang, Zitat oder beides
Gelbes Männchen auf Pfeiler
Ein Novum in dieser Galerie: Ein Männchen, um das man ganz einfach herumlaufen kann
Männchen auf roter Fliesenwand
Entgegen landläufiger Meinung bedarf ein Graffiti nicht der breiten Öffentlichkeit
Männchen in einer Dachnische
Resultat einer waghalsigen Klettertour – Das sind Zeichenaufstände im Dunklen
Blasses Männchen auf Betonsegment
Bereits stark im Verblassen begriffen zeigt sich dieses Männchen in einem Baustellenbereich
Männchen auf Tür in Ruinenwand
Das Zeichen-Männchen an der Ruinen-Fassade verabschiedet sich an dieser Stelle